sifazSchweizerisches Institut für Antiziganismusforschung
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Ein Kolloquium sowie weitere Hinweise zur anstehenden Aufarbeitung der Verfolgung der Jenischen unter den Nationalsozialismus

Am 22. Juli 2010 fand im unterirdischen Videoraum der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas das bisher erste Kolloquium zur Verfolgung der Jenischen zur Zeit des Nationalsozialismus statt. Das Kolloquium war der Auftakt zum Projekt der gemeinsamen Erarbeitung eines Erinnerungsbuchs zur Verfolgungsgeschichte der Jenischen unter dem Nationalsozialismus durch die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Zusammenarbeit mit dem Bund der Jenischen in Deutschland sowie mit der transnationalen jenischen Organisation Schäft qwant.
Deshalb waren der Präsident des Jenischen Bundes in Europa, Timo Adam Wagner, sowie Stefan Hohnstein, Vertreter des Jenischen Bundes in Berlin, zum Kolloquuium eingeladen. Von Schäft qwant nahmen der Präsident Sergio Borri und der Geschäftsführrer Venanz Nobel teil.
Von seiten des SIFAZ war Dr. Thomas Huonker anwesend, der das Projekt zusammen mit den jenischen Organisationen angestrebt hatte; er war als Berater und Co-Leiter für die wissenschaftlichen Belange in das Buchprojekt eingebunden.

Hier der link zum Protokoll dieses Kolloquiums sowie, da es leider teilweise fehlerhaft protokolliert wurde, zu einer Protokollberichtigung (hier der link dazu).
Überraschenderweise wurde seitens der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, welcher auch das Gedenken an die anderen Opfergruppen des Nationalsozialismus obliegt, die Zusammenarbeit mit den jenischen Organisationen anfangs August 2010 sistiert. Vorgesehen war deren Mitwirkung insbesondere bei der Befragung von jenischen Zeitzeugen sowie bei der Archivarbeit. Zum gleichen Zeitpunkt wurde seitens der Stiftung auch die Zusammenarbeit mit Dr. Thomas Huonker sistiert, nachdem dieser noch zusammen mit Jana Mechelhoff-Herezi eine Übersicht der zu durchforstenden Archive zusammengestellt hatte.
Der Direktor der Stiftung für die ermordeten Juden Europas, Uwe Neumärker, der am Kolloquium nicht teilgenommen hatte, behauptete nun plötzlich, eine kollektive Verfolgung der Jenischen als Jenische habe zur Zeit des Nationalsozialismus nicht stattgefunden, ferner befand er, Archivarbeit sei für ein solches Buch kaum nötig und schon gar nicht in der aufgegleisten Form.

Zu diesen Aeusserungen verfasste Dr. Thomas Huonker im September 2010 eine Stellungnahme (hier der link dazu).

Bekanntlich haben viele Wissenschafter, so etwa der verstorbene Dr. Michael Zimmermann sowie Prof. Dr. Wolfgang Wippermann, schon seit Jahren darauf hingewiesen, dass die Verfolgungslage der Jenischen im Dritten Reich bisher noch nicht systematisch erforscht worden ist. Einzig Einzelfälle von KZ-Einweisungen sowie die Ermordung des jenischen "Euthanasie"-Opfers Ernst Lossa wurden bisher in der wissenschaftlichen Literatur thematisiert. Andrew Rocco D'Arcangelis hat das nazistische Schrifttum im Umkreis der Verfolgung und Diffamierung der Jenischen in seiner Dissertation umfassend dargestellt.
Doch das Forschungsdesiderat einer das gesamte Herrschaftsgebiet des Nazireichs umfassende, auf breiten Archivstudien und auf Begragungen von Zeitzeugen steht weiterhin uneingelöst im Raum.
Das SIFAZ vertritt die Meinung, solche Forschungen seien dringlich und müssten insbesondere auch systematische Archivarbeit umfassen. Sie sollten unter Garantie der gleichberechtigten Mitarbeit der Jenischen in den Leitungsgremien und auch in der konkreten Forschungsarbeit endlich an die Hand genommen werden. Dies gerade unter Reflexion der Rolle, welche Wissenschafter wie Dr. Dr. Robert Ritter, Dr. Eva Justin und andere, später auch Verteidiger Ritters und Justins wie Prof. Dr. Hermann Arnold, bei der Verfolgung und Diffamierung der Jenischen gespielt haben. Das SIFAZ bedauert sehr, dass die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas - entgegen der ursprünglichen gemeinsamen Absicht - dazu nun nicht mehr Hand zu bieten gewillt zu sein scheint und bislang auch auf Vermittlungsversuche seitens der für die Finanzierung des Projekts zuständigen Regierungsstellen nicht eintreten will.

Zur Ergänzung dieser Dokumente finden Sie hier ferner die
Stellungnahme von Dr. Thomas Huonker anlässlich des Treffens einer Delegation des Jenischen Bundes in Deutschland mit Vertretern des Bundeskulturministeriums in Bonn am 31. Juli 2007 (hier der link dazu).

Kritische Hinweise zur Einstufung der Jenischen im Raster der nazistischen Rassenlehre betreffend "Zigeuner" finden sich in den folgenden
Bemerkungen zur Dissertation von Eva Justin aus dem Jahr 1943 (hier der link dazu)