Integration und Ausschluss
Nationales Forschungsprogamm NFP 51

Projekt Nr. 405140-69207
Unterwegs zwischen Verfolgung und Anerkennung. Formen und Sichtweisen der Integration und Ausgrenzung von Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz von 1800 bis heute. Zusammenfassung der wichtigsten Resultate

Unterwegs zur Gleichberechtigung

Thomas Huonker

Das NFP-51-Projekt «Unterwegs zwischen Verfolgung und Anerkennung. Formen und Sichtweisen der Integration und Ausgrenzung von Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz seit 1800 bis heute» analysiert diesen gesellschaftlichen Wandel unter besonderer Berücksichtigung der Perspektiven vieler einzelner Gruppenangehöriger.

Ausgrenzung und Sippenhaft
1798 kam es in der Schweiz zum revolutionären Bruch mit älteren sozialen Mustern. So wurde am 12. Mai 1798 die Folter abgeschafft. Ebenso wurde damals die Ausschreibung obrigkeitlich Verdächtigter, die nicht sesshaft lebten, geändert. Waren im 18. Jahrhundert unerwünschte «Zeginer» und «Jauner» samt ihren Familien in so genannten "Gaunerlisten" erfasst worden, so wurden diese Spezial-Listen nun durch für alle Inkriminierten, auch für sesshafte, gleichartige individuelle Signalemente ersetzt, ohne Einbezug von Familienmitgliedern in Sippenhaftung. Doch in der Restaurationsphase ab 1815 wurden, parallel zur teilweisen Wiedereinführung der Folter, erneut ganze Familien umfassende behördliche Verzeichnisse von nicht Sesshaften erstellt, so noch 1844 im Kanton Thurgau.

In Anstalten verbracht
Die neuen Eliten des 19. Jahrhunderts fürchteten kollektive und individuelle Angriffe auf ihre Werte materieller und immaterieller Art aus den Rängen der «gefährlichen Klassen» der Unterschicht. Sie orteten Bedarf an Institutionen zu deren Disziplinierung. Entsprechendes ist in den Protokollen der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) dokumentiert. Deren Beratungen verschmolzen mit philanthropisch begründeten älteren Diskursen, die ebenfalls ausgrenzende Ideologeme enthielten, so die Aussagen des Anstaltspioniers Johann Heinrich Pestalozzi betreffend «Ziginer». Auch in der Schweiz wurde das 19. Jahrhundert ein «Jahrhundert der Anstalten», die meisten mit Zwang verbunden (Familientrennung, Internierung, Zwangsarbeit). Nicht Sesshafte wurden überproportional in solche Institutionen verbracht, unter dem in deren Akten oft verwendeten Begriff «Vaganten» als Etikett für verschiedene Personenkreise. Erste gezielte Fremdplatzierungen von Kindern nicht Sesshafter in der Schweiz betrieben von 1825 bis 1859 die Sektionen Luzern und Zürich der SGG.

Bürger – und trotzdem diskriminiert
Schon vor den Zwangseinbürgerungen ab 1850 wurden einige jenische Familien zu Bürgern ihrer Heimatgemeinden, andere erst im Zug dieses behördlicherseits auch «Vagantenfahndung» genannten Verfahrens, wieder andere waren seit jeher Schweizer Bürger. Die Neueingebürgerten wurden betreffend Anteil am Gemeindebesitz und Wohnmöglichkeiten regional unterschiedlich behandelt und vielfach krass diskriminiert. Unerwünschte Neubürger wurden oft zur Auswanderung gedrängt. Diese Einbürgerung per «Gesetz die Heimatlosigkeit betreffend» (vom 3.12.1850) verzögerte sich wegen starker kantonaler und kommunaler Widerstände um Jahrzehnte, insbesondere in der Süd-, Ost- und Zentralschweiz. Doch hielt die Bundesregierung bis um 1900 fest an der Einbürgerung vormals Papierloser; auf spätere Bewohner der Schweiz mit dieser Problematik wurde dieses Gesetz nur vereinzelt und ab 1919 gar nicht mehr angewendet.

Grenzsperre, Einreiseverbot, Familientrennung
Von 1848 bis 1888 galt in der Schweiz auch für «Zigeuner» Reisefreiheit. Doch von 1888 bis 1972 wurden sie wieder abgewiesen und ausgeschafft, wie schon vor 1848. Der Bundesbeamte Eduard Leupold besuchte 1907 die Münchner «Zigeunerzentrale», erstellte ein schweizerisches «Zigeunerregister», also wieder ein Spezialregister, das ganze Familien einer bestimmten sozialen Gruppe umfasste, und realisierte 1913 sein spezielles Verfahren zur Ab- und Ausweisung ausländischer «Zigeuner»: Frauen und Kinder wurden in Heime der Heilsarmee überführt, die Männer in die Strafanstalt Witzwil BE. Erst bei der Ausschaffung kamen sie wieder zusammen. Einige Sinti-Kinder gingen dabei ihren Familien verloren.

Kastration und Auslieferung an die Nationalsozialisten
Eines dieser Kinder, Josef Anton R., durchlief diverse Anstalten, wo er psychische Störungen erlitt. Als Erwachsener wurde der Betreffende 1934 kastriert. Das Gutachten verfasste der in der Schweiz arbeitende deutsche Psychiater Herbert Jancke, der sich zum Nationalsozialismus bekannte. Es wurde vom Berner Universitätsprofessor und Klinikleiter Jakob Klaesi mitunterzeichnet. Der Sinto blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1972 in Schweizer Anstalten interniert. Sinti, Roma und Jenische, die sich vor Faschismus und Holocaust in die Schweiz retten wollten, wurden wenn immer möglich ausgeschafft. So noch im September 1944 der Sinto Anton Reinhardt. Er war aus dem Spital Waldshut, wo der 17jährige zwangssterilisiert werden sollte, geflohen und über den Rhein geschwommen. Im April 1945 wurde er von der SS erschossen.

Kein «Hilfswerk», sondern Verfolgungskampagne
In Graubünden, im Tessin und in einer St. Galler Gemeinde kooperierten die Behörden besonders eng mit dem 1926 gegründeten, vom Bund 1930–1967 subventionierten «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» unter dem wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen vorbestraften Pädagogen Dr. Alfred Siegfried. Auch Siegfrieds Nachfolger als Leiter des «Hilfswerks», Dr. Peter Döbeli, vergriff sich an Schutzbefohlenen und wurde deswegen verurteilt. Die letzte Leiterin war dann die Ordensschwester Clara Reust. Siegfried stützte sich bei seinen Aktivitäten zur Auflösung der jenischen Familien auf Argumente von Rassenhygienikern wie Josef Jörger, Robert Ritter und Rudolf Waltisbühl. Das «Hilfswerk» war eine Abteilung der von der SGG sowie von Ulrich Wille (junior) 1912 gemeinsam gegründeten Stiftung Pro Juventute. Wille leitete diese Stiftung bis 1958. Er war ein persönlicher Freund und finanzieller Förderer von Rudolf Hess und Adolf Hitler, schon vor deren Münchner Putsch von 1923. Menschen-, Kinder- und Familienrechte wurden in dieser behördlich abgesegneten Grauzone gezielter Verfolgung einer Minderheit missachtet, bis hin zu Tatbeständen des Völkermords. Die Pro Juventute löste das «Hilfswerk» nach kritischen Artikeln des Journalisten Hans Caprez (1972) in den Folgejahren auf. Viele jenische Mündel des «Hilfswerks», aber auch anderweitig behördlich ähnlich behandelte Jenische verblieben auch danach, oft lebenslänglich, in Heimen oder Kliniken.

Viele Selbstzeugnisse und eine Gesamtdarstellung
Unser Projekt erforschte die Phasen des Wegs zur heute noch nicht vollständig umgesetzten Anerkennung der lange brutal verfolgten Minderheiten der Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz als mit allen anderen Einwohnern und Gruppen der Schweiz Gleichberechtigte. Neben den Akten verfolgender Instanzen untersuchten wir vor allem Selbstzeugnisse von Gruppenangehörigen. Diese berichten von der Verfolgung, ab 1972 von Anfängen und Ausbau der Selbstorganisation. Daneben thematisieren sie die zunehmende Anerkennnung von Jenischen, Sinti und Roma als Gleichberechtigte, aber auch fortbestehende Elemente der Diskriminierung, teilweise in neuer Form.
Die detaillierten Ergebnisse unserer Forschungsarbeit werden in drei Teilen veröffentlicht.
Teil 1: Interview-Transkripte (kommentiert und mit editorischen Angaben). Dieser Teil wird erscheint zuerst (in zwei Bänden).
Teil 2: Schriftliche Selbstzeugnisse (kommentiert und mit editorischen Angaben).
Teil 3: Chronologische Darlegung von Formen und Sichtweisen der Integration und Ausgrenzung von Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz seit 1800 bis heute.

Das Projekttteam dankt allen, die es bei seiner Arbeit unterstützen.

Zusätzliche Informationen zum Projekt

Das Projekt untersucht Formen und Phasen der Ausgrenzung und Integration von Jenischen, Roma und Sinti in der Schweiz. Im Zentrum steht die Erforschung ihrer Selbstbilder. Diese sind in Interviews und eigenen Texten sowie in Fremdquellen mit Selbstaussagen von Gruppenangehörigen überliefert.

Hintergrund
Der Bund, die Kantone und die Organisationen der Betroffenen nehmen die Aufarbeitung der Geschichte von Jenischen, Sinti und Roma an die Hand. Einzelne Studien, etwa zum «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» (1926-1973) oder zur Flüchtlingspolitik während der Zeit des deutschen Nationalsozialismus, liegen vor. Was fehlt, ist eine Darstellung der Geschichte der Jenischen, Sinti und Roma im 19. und 20. Jahrhundert unter Voranstellung der Selbstbilder dieser Gruppen während der Phasen ihrer Ausgrenzung respektive Integration. Bis vor 35 Jahren prägten negative Fremdbilder wie «Zigeunerunwesen» oder «Vagantentum» das Bild.

Ziel und Vorgehen
Das Projekt untersucht die neuere Geschichte der Jenischen, Roma und Sinti aus multikultureller und minderheitsgeschichtlicher Perspektive. Im Vordergrund stehen Selbstbilder dieser Gruppen. Autonom formulierte und überlieferte Texte gibt es vor allem aus neuerer Zeit (seit Mitte der 1960er Jahre). Zusätzlich entstehen sie in Form von lebensgeschichtlichen Interviews mit Angehörigen der genannten Gruppen. Im älteren Untersuchungszeitraum (1800-1967) werden schriftliche Quellen durchforstet und auf Wechselwirkung von Selbst- und Fremdbildern untersucht unter Fokussierung auf die damaligen Selbstbilder. Diese lassen sich beispielsweise aus Verhören und Protokollen in Einbürgerungs-, Fürsorge-, Mündel-, Anstalts-, Polizei- und Psychiatrieakten entnehmen.

Bedeutung
Das Projekt bezweckt die Unterstützung der Selbstbehauptung und Identitätswahrung der Jenischen, Roma und Sinti. Es steht für eine Abkehr von Tendenzen der früheren Wissenschaft, welche unter Rekurs auf rassistisch unterlegte biologistische, psychiatrische und kriminalistische Thesen den Jenischen, Sinti und Roma ihre Daseinsberechtigung absprach. Das Projekt verschafft den Stimmen dieser Gruppen Gehör. Es konfrontiert ihre Selbstbilder mit den stigmatisierenden Fremdbildern mit dem Ziel, mehr Realitätsbezug und mehr Respekt in die Fremdbilder zu bringen. So kann die Integration der Jenischen, Roma und Sinti in die multikulturelle Zivilgesellschaft unter Anerkennung ihrer kulturellen Diversität und ihrer lange missachteten Menschenrechte mit wissenschaftlichem Orientierungswissen begleitet werden.

Proposal no.

Bewilligtes Projekt CHF 300'000.-

Projektdauer 01.06.2003-31.05.2006

Dr. Thomas Huonker
Aehrenweg 1
8050 Zürich
Tel. +41 (0)1 312 30 75
thomas.huonker@spectraweb.ch