sifazSchweizerisches Institut für Antiziganismusforschung
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Zwei leider sehr aktuelle antiziganistische Kampagnen in der Schweiz:
Das polizeiliche, die Roma kollektiv und pauschal mit kriminellen Tatbeständen in Verbindung bringende "Projekt Agora" mit dem Ziel polizeilicher Kindswegnahmen, in Bern seit 2009 aktuell, verbreiteert mit einem Bericht des Schweizerischen Städteverbands vom 5. Oktober 2011, der breiten Öffentlichkeit im Frühjahr 2012 präsentiert,
und das Cover der Schweizer Gazette "Weltwoche" von 5. April 2012, welches einen im Kosovo lebenden achtjährigen Roma-Jungen als Gefahr für die Schweiz hinstellt und die Roma kollektiv und pauschal mit kriminellen Tatbeständen in Verbindung bringt.


Als ob es keine historische Aufarbeitung des Versuchs, durch systematische Kindswegnahmen von 1926 bis 1973 die jenische Volksgruppe aus dem Erscheinungsbild der Schweiz auszutilgen, gegeben hätte, liefen diese Kampagnen an, welche eine ethnische Gruppe - diesmal die Roma - kollektiv mit Kriminalität assoziieren und diese insbesondere schon in Kindern orten. Während das "Projekt Agora" darauf abzielt, Romakinder in der Schweiz von ihren Verwandten zu trennen und polizeilich in Kinderheime zu verbringen, um sie anschliessend auszuschaffen, verwendet die Hetznummer der "Weltwoche" das Bild eines in seiner Familie im Kosovo lebenden Romajungen, um zu suggerieren, Romakinder seien eine Bedrohung der Schweiz.
Gegen die "Weltwoche" gingen wegen dieser Nummer im In- und Ausland verschiedene Strafanzeigen ein.

Wir werden oft gefragt, was das denn sei, Antiziganismus. Eine konkrete Antwort darauf lautet: Solche Kampagnen sind antiziganistisch. Sie stigmatisieren eine Volksgruppe, indem sie diese kollektiv und pauschal mit Straftaten in Verbindung bringen. Antiziganistisch ist es auch, spezifische polizeiliche, behördliche und politische Vorgehensweisen gegen die Gesamtheit der mit der Fremdbezeichung "Zigeuner" benannten und verfolgten Volksgruppe oder gegen eine spezifische Teilgruppe der Roma, Sinti und Jenischen zu propagieren.

Zur geschichtlichen Dimension bleibt noch anzumerken, dass schweizerische Polizei-Instanzen sich von 1926 bis 1973 in zahlreichen Fällen unkritisch auf die Seite jener stellten, welche den Jenischen die Kinder gewaltsam wegnahmen und sie elenden Verhältnissen aussetzten, fremdplatziert als Verdingkinder bei Bauernfamilien, in Kinderheimen und Anstalten. Dort mussten sie harte Zwangsarbeit leisten, sie wurden oft misshandelt, teilweise auch sexuell missbraucht. Doch die Polizei unternahm nichts gegen diese Gewalt an Kindern. Im Gegenteil. Sie fing Flüchtende, welche davonliefen, um Zuflucht bei ihren Eltern und Verwandten oder bei einzelnen ihnen freundlich gesinnten Personen zu suchen, unerbittlich wieder ein und verfrachtete sie an die "Pflegeplätze" und in die Anstalten zurück. Es gab allerdings einzelne Polizeibeamte, welche diese Verfolgung ablehnten und nicht mitmachten. Es darf auch nicht vergessen werden, dass die Eidgenossische Polizeiabteilung in Bern schon ab 1911 die Abschreckung einreisender ausländischer Roma, Sinti und Jenischer durch ähnliche Massnahmen betrieb, nämlich durch getrennte Inhaftierung der aufgegriffenen Roma-Männer in Witzwil, der Roma-Frauen und Roma-Kinder in Heimen der Heilsarmee und der Caritas. Einzelne Kinder wurden dabei auch von ihren Eltern getrennt und verblieben teilweise lebenslänglich in Schweizer Anstalten. So wurde von 1911 bis 1972 das menschenrechtswidrige, diskriminierend gegen Roma, Sinti und Jenische gerichtete, auf eine "zigeunerfreie" Schweiz abzielende offizielle schweizerische Einreiseverbot gegen "Zigeuner" durchgesetzt. Auch dabei machten glücklicherweise einge Polizeibeamte - leider nur allzu seltene - Ausnahmen.

Auch die Rolle der Medien darf nicht unterschätzt werden. Am Anfang des so genannten "Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse" standen zwei Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung, mit denen sich der vorbestrafte Pädokriminelle Dr. Alfred Siegfried, dessenungeachtet zum Leiter der Abteilung Schulkind bei Pro Juventute ernannt, sich den elitären Kreisen erfolgreich als angeblich zur Wahrung des Kindswohls jenischer Kinder bestens geeignet zu empfehlen wusste.
Umgekehrt war es der mutige Beobachter-Redaktor Hans Caprez, der mit seiner Artikelserie im Jahr 1972 dem von Alfred Siegfried 1926 gegründeten angeblichen "Hilfswerk" "für die armen Zigeunerkinder" ein Ende bereitete.

Der Schweizer Bundesrat hat sich 1986 für die greausamen Kindswegnahmen an den Jenischen, 2000 für die unbarmherzige kollektive Abweisung von Roma, Sinti und Jenischen an den Grenzen, insbesondere während der Jahre von 1933 bis 1945, entschuldigt.
Wo steht die Schweiz heute? Dies zu entscheiden und mitzugestalten ist jeder und jede Einzelne aufgerufen, insbesondere auch jede/r einzelne Polizeibeamte oder Behördenvertreterin.
Nicht wegschauen!
Zivilcourage zeigen!
Aus der Geschichte lernen!


Es folgen nun einige Links, zuerst zum "Projekt Agora",
dann zur eingeklagten Nummer der "Weltwoche"
und schliesslich zu den historischen Vorläufern des heutigen Antiziganismus in der Schweiz.
(Zur desolaten, von ökonomischer Ausgrenzung, hetzerischer rassistischer Diskriminierung bis hin zu eigentlichen Menschenjagden geprägten Lage der in ihrer Mehrheit eben bettelarmen Roma in Ländern wie Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Slowakei etc. finden Sie über Google leicht eine grosse Menge eindrücklicher Berichte. Eben so zu den Hetzkampagnen, welche die Regierungen Sarkozy bzw. Berlusconi gegen Roma lostraten oder tolerierten. Es sollte eine dringende Aufgabe des Europarates und der europäischen Regierungen sein, die menschenunwürdige soziale Lage der Roma, der grössten europäischen Minderheit, mittels Durchsetzung von Respekt und Gleichberechtigung auch für diese Mitbürger endlich zu beenden.)
Nicht die Roma sind das Problem, sondern ihre Ausgrenzung und rassistische Stigmatisierung!

Kritik von Venanz Nobel, Vizepräsident der jenischen Organisation schäft qwant, am "Projekt Agora" (hier der link dazu).

Artikel auf swissinfo.ch vom 30. März 2012 mit Aussagen von Fremdenpolizist Alexander Ott zum "Projekt Agora" (hier der link dazu).

Artikel von David Schaffner im Tages-Anzeiger, Zürich, vom 13. April 2013 zum "Projekt Agora" und zur zunehmenden Respektlosigkeit gegenüber Fahrenden in der Schweiz (hier der link dazu)

Artikel auf swissinfo.ch, 7. April 2012, zu den Anzeigen gegen die "Weltwoche"-Nummer vom 5. April 2012 (hier der link dazu)

Wiener Journalist klagt Weltwoche wegen Verhetzung ein. Artikel im Tages-Anzeiger, Zürich, vom 7. April 2012 (hier der link dazu).

Artikel in der Aargauer Zeitung vom 8. April 2012 zu Beschwerden an den Presserat gegen Roger Köppel und Philipp Gut von der "Weltwoche" wegen der Nummer vom 5. April 2012 (hier der link dazu)

Artikel von Cygdem Akyol in der TAZ vom 9. April 2012 (hier der link dazu).

Artikel von Cathrin Kahlweit in der Süddeutschen Zeitung vom 9. April 2012 zur missbräuchlichen Verwendung des Fotos auf dem Cover der Weltwoche-Nummer vom 5. April 2012 (hier der link dazu)

Artikel von Robert Misik in der TAZ vom 11. April 2012 zum hetzerischen Stil von Roger Köppels "Weltwoche" (hier der link dazu)

Der Zentralrat der deutschen Sinti und Roma erhebt Anzeige gegen die Verantwortlichen für die Nummer der "Weltwoche" vom 5. April 2012 (hier der link dazu)

Die Nationalrätin (FDP) und Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus Martine Brunschwig-Graf kritisiert das Cover der Weltwoche vom 5. April 2012 mit dem Bild eines Roma-Jungen. Artikel im Tages-Anzeiger, Zürich, vom 12. April 2012 (hier der link dazu)

Ulrike Simon in der Frankfurter Rundschau vom 13. April 2012 zum Journalismus von Köppels Weltwoche (hier der link dazu)

Artikel von David Schaffner im Tages-Anazeiger, Zürich, vom 18. April 2012 zum Vorschlag, Roma-Kinder in Heime zu verbringen (hier der link dazu)

Reportage in der Wochenzeitung, Zürich, vom 19. April 2012 (online-Kurzfassung) von Carlos Hanimann und Fabian Biasio zur realen Lebenswelt des achtjährigen Romajungen aus dem Kosovo, der auf dem Cover von Köppels Weltwoche am 5. April 2012 als Personifikation einer angeblichen Bedrohung der reichen Schweiz durch die angeblich kollektiv kriminelle Ethnie der Roma missbraucht wurde (hier der link dazu)

Ein längerer Artikel von Thomas Huonker mit vielen Zitaten und Belegen zum genozidalen Versuch, die Kultur und die Familien der Jenischen in der Schweiz durch eine gezielte Kampagne der Pro Juventute und anderer Instanzen von 1926 bis 1973 zu zerstören (hier der link dazu)

Ein ausführlicher und mit Dokumenten illustrierter Artikel von Beat Grossrieder im Beobachter, Zürich, vom 11. April 2012, zu den engen und freundschaftlichen Beziehungen von Ulrich Wille junior, dem Gründer und lebenslänglichen Stiftungskommissionspräsidenten der Pro Juventute, zu Rudolf Hess und Adolf Hitler (hier der link dazu)

Ein weiterer längerer Artikel von Thomas Huonker, auch auf französisch publiziert, zu Kindswegnahmen durch Polizeibehörden aus Familien von trotz Grenzsperre in die Schweiz eingereisten Roma, Sinti und Jenischen ab 1911; zur Kastration eines dieser Opfer gemäss gemeinsamem Gutachten von Professor Jakob Klaesi und Naziarzt Herbert Jancke in Bern 1934, sowie über die enge Zusammenarbeit schweizerischer und deutscher Polizeiinstanzen, und zwar auch zwischen 1933 und 1945, auf dem Feld der rassistischen Diskriminierung und Verfolgung von Roma, Sinti und Jenischen (hier der link dazu)